Arzthaftung/Verkehrsunfall: Die Probleme bei der Berechnung des Erwerbsschadens

Gießen/Wetzlar, 05.12.2020

Als Fachanwalt für Medizinrecht ist der Unterzeichner regelmäßig mit der Regulierung von Personenschaden beauftragt. Für den Umfang des Schadens ist der Grund der Haftung (Ärztlicher Behandlungsfehler/Verkehrsunfall) ohne Bedeutung. Die folgenden Betrachtungen gelten daher im gleichen Maße für eine Haftung aus §§ 280 Abs.1, 823 BGB (Behandlungsfehler) oder (§ 11 StVG (Verkehrsunfall).

Erleidet der Verletzte aufgrund des Vorfalls gesundheitliche Schäden/Einschränkungen größeren Ausmaßes, so kann er auch in seinem beruflichen Fortkommen geschädigt sein, wenn die Wiederherstellung der Gesundheit nicht mehr voll umfänglich möglich ist.  Der auf Naturalrestitution (Herstellung der Verhältnisse wie sie ohne das schädigende Ereignis bestanden hätten) gerichtete Schadensersatzanspruch des Geschädigten richtet sich dann auf die Freihaltung von finanziellen Schäden. Dabei sind  oft komplexe Betrachtungen und Berechnungen erforderlich, in die auch steuerrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Aspekte einzubeziehen sind.

Der hier allein diskutierte Erwerbsschaden erfasst alle wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, die der Geschädigte dadurch erleidet, dass er seine Arbeitskraft nicht mehr vollständig einsetzen kann. Neben dieser und anderer Formen des Schadensersatzes (etwa: Ersatz der Heilbehandlungskosten; vermehrte Bedürfnisse) ist natürlich auch noch Schmerzensgeld geltend zu machen. Die Grundlage und Bemessung von Schmerzensgeld sind aber Gegenstand anderer Betrachtungen. Als Fachanwalt für Medizinrecht mit zehnjähriger Berufserfahrung ist hier ohnehin festzustellen, dass der „materielle Schadensersatz“ den „immateriellen Schadensersatz“ (Schmerzensgeld) summenmäßig in der Regel weit überwiegt. Diskutiert wird an dieser Stelle auch nur ein Teil des Schadensersatzes bei Personenschaden. Gegenstand der vorliegenden Betrachtung ist nur der Erwerbsschaden.

Grundlage für den fiktiv zu errechnenden Erwerbsschaden sind dabei natürlich die Einkommensverhältnisse, wie sie vor dem Verkehrsunfall bzw. Behandlungsfehler bestanden haben. Diese sind im Rahmen der Regulierung vom Anwalt des Geschädigten detailliert darzulegen.

I. Ermittlung des (fiktiven) Einkommens

Um das fiktive Einkommen wie es sich ohne den Behandlungsfehler oder Verkehrsunfall gestaltet hätte zu ermitteln sind die schadensrelevanten Einkommensquellen zu ermitteln. Dazu gehören:         

  1. Grundgehalt, Arbeitslohn inklusive Urlaubsgeld und Sonderzahlungen, Überstundenvergütung, vermögenswirksame Leistungen, Durchschnittslohn bei faktischen Arbeitsverhältnissen
  2. Einkünfte auf Nebentätigkeiten
  3. Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe
  4. Haushaltsführungsschaden
  5. entgangener Gewinn, Gewinnbeteiligung
  6. Steuernachteile
  7. Versicherungsrechtliche Nachteile (Beitragszuschläge)

Da der weitere Erwerb natürlich unterbrochen wurde und die Berechnung nur hypothetisch erfolgen kann, sind dies in Praxis des Personenschadens Aspekte die der gerichtlichen Schätzung unterliegen. Der Anspruchsteller bzw. sein Anwalt sollte daher konkret darlegen, wie die weitere berufliche Entwicklung des Geschädigten sich ohne das schädigende Ereignis dargestellt hätte um dem Gericht oder dem Versicherer des Arztes/Unfallgegners die Schätzungsgrundlagen zu vermitteln. Dabei sind etwa auch Aspekte wie zukünftige Lohnsteigerungen zu berücksichtigen die naturgemäß nur geschätzt werden können. Unabhängig davon, ob die Haftungsgrundlage ein Verkehrsunfall oder ein Behandlungsfehler ist, ist für die Berechnung des Erwerbsschadens eine Prognose der Entwicklung nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge. An diese Prognose sind aber aufgrund der natürlichen Unsicherheiten  nur maßvolle Anforderungen zu stellen  (OLG Koblenz – 12 U 961/99; dort wurde auch festgestellt, dass die Schadensersatzpflicht auch durch psychische Beeinträchtigungen des Geschädigten  ausgelöst werden können, wenn sie zur Minderung der Erwerbsfähigkeit führen). Für den bearbeitenden Rechtsanwalt oder den Geschädigten selbst ist es noch wichtig zu wissen, dass Schwierigkeiten bei der Prognose nach Auffassung der Rechtsprechung zum Personenschaden zu Lasten des Schädigers gehen.

Bei jungen Menschen gesteht die Rechtsprechung darüber hinaus einen „Schätzungsbonus“ zu, da naturgemäß die Prognose der beruflichen Entwicklung schwerer fällt als bei Geschädigten die bereits voll im Erwerbsleben stehen. Bei jungen Geschädigten können auch „Verzögerungsschäden eintreten“, also solche, die darin begründet liegen, dass das Unfallopfer bzw. das Opfer des Behandlungsfehlers erst später in das Erwerbsleben eintreten kann.

Vergleichbare Probleme bestehen auch bei der Ermittlung des Erwerbsschaden bei jungen Unternehmen oder Unternehmen in der Anlaufphase. In diesen Fällen kann nicht – wie sonst üblich – auf die Betriebsergebnisse der letzten Jahre zurückgegriffen werden. Insoweit werden weitere Schätzungsgrundlagen erforderlich um den Erwerbsschaden zu ermitteln. So kann etwa auf die Auftragslage zum Eintritt des schädigenden Ereignisses abgestellt werden. Dabei werden natürlich die Betriebskosten ebenfalls berücksichtigt. 

Nicht zu den schadensrelevanten Einkommensquellen gehört übrigens die Rentenversicherung. Soweit Rentenansprüche verlustig gehen, müssen diese von der Rentenversicherung unmittelbar geltend gemacht werden. Sie sind nicht Gegenstand eines Arzthaftungsverfahrens oder der Regulierung eines Verkehrsunfalls durch den Anwalt. Möglich ist es natürlich, den Rentenversicherungsträger durch den Rechtsanwalt informieren zu lassen, damit der Träger der Rente den Schaden beim Schädiger, ob Arzt, Krankenhaus oder Unfallgegner, geltend machen kann.

Der Zeitraum für den sich die Beeinträchtigung der Arbeitskraft auswirkt ist im Einzelfall festzustellen. Er hängt insbesondere davon ab, wie lange der dauerhaft Verletzte voraussichtlich im Erwerbsleben hätte bleiben können. Soweit also der Erwerbsschaden abhängig Beschäftigter anwaltlich zu regulieren ist, ist in der Regel auf das Renteneintrittsalter abzustellen. Für den bearbeitenden Anwalt ist sowohl im Rahmen der Regulierung von ärztlichen Behandlungsfehlern als auch bei der Unfallregulierung zu beachten, dass von diesem Grundsatz aufgrund der Umstände des Einzelfalls Abweichungen bestehen können. So etwa, wenn der Verletzte aufgrund gesundheitlicher Probleme voraussichtlich nicht bis zum Eintritt in das reguläre Renteneintrittsalter hätte arbeiten können.

Anders als bei abhängig Beschäftigten existiert für Selbstständige und Freiberufler keine starre Altersgrenze für den Eintritt in den Ruhestand. Die zu erwartende Berufsaufgabe kann daher im Einzelfall bei 70 Jahren gezogen werden, wobei zu beachten ist, dass auch bei Selbstständigen die Fähigkeit zur Ausübung des Berufs mit dem Alter abnimmt. Soweit eine Altersbegrenzung für Beschäftigte besteht, die die selbe Tätigkeit ausüben kann auch auf diese Altersgrenze abgestellt werden.

II.Einwendungen der Gegenseite zur Schadenshöhe

Nach Ermittlung des (künftigen) Erwerbseinkommens ist vom bearbeitenden Rechtsanwalt festzustellen, welche Kosten der Geschädigte aufgrund des schädigenden Ereignisses einspart. Wie bereits erwähnt muss der Schädiger den Geschädigten nur so stellen, wie das Opfer stünde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Abgesehen vom Schmerzensgeld erfolgt daher keine vermögensrechtliche Begünstigung des Opfers. Im Rahmen des hier relevanten Schadensersatzes sind daher die Kosten in Abzug zu bringen, die das Opfer des Verkehrsunfalls bzw. des ärztlichen Behandlungsfehler („Grundsatz der Naturalrestitution“, §§ 249ff.  BGB;zu ersetzen ist nur der tatsächlich entstandene Schaden).

Insbesondere sind vom ermittelten Erwerbsschaden die folgenden Positionen abzugsfähig:

  1. Erwerbsminderungsrente
  2. Abzug von Eigenersparnissen
  3. ersparte Kosten der Arbeitskleidung
  4. ersparte Kosten doppelter Haushaltsführung
  5. ersparte Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz
  6. Verpflegungskosten
  7. ersparte Steuern
  8. Verwertbarkeit restlicher Arbeitskraft im Haushalt
  9. Erlöse aus Geschäftsaufgabe (Unternehmensverkauf)

 

Erwerbsminderungsrente/Arbeitslosenunterstützung/Krankengeld/Verletztenrente: Zwingend auf den Erwerbsschaden anzurechnen sind sämtliche Sozialleistungen, die der Geschädigte als Lohnersatz erhält. Neben der Erwerbsminderungsrente können dies natürlich auch Leistungen nach dem SGB III oder SGB II sein. Darüber sind auch Krankengeld oder Verletztengeld vom Erwerbsschaden in Abzug zu bringen. Vom bearbeitenden Rechtsanwalt zu beachten ist jedoch, dass selbst finanzierte Leistungen (etwa: private Unfallversicherung) gerade nicht auf den Erwerbsschaden anzurechnen sind. Die überobligatorisch selbst verschafften Vorteile des Geschädigten sollen den Schädiger gerade nicht entlasten und schmälern den Anspruch auf Schadensersatz nicht.  

In der Praxis der Regulierung des Personenschadens kann man sich gelegentlich als Anwalt nicht des Eindrucks erwehren, dass den Gerichten die ausgerechneten und begründeten Ersatzansprüche des Geschädigten schlichtweg zu hoch erscheinen. Dem Verfasser dieser Zeilen sind als Rechtsanwalt Urteile bekannt, in denen Gerichte schlichtweg – ohne jede gesetzliche Grundlage – behauptet haben, dass es für den Haushaltsführungsschaden Obergrenzen gäbe und damit die Ansprüche des Geschädigten beschnitten haben. Teilweise wird auch unter Berufung auf ein „allgemeines Arbeitsplatzrisiko“ mit 10 bis 20 Prozent vom errechneten Einkommen abziehen (BGH, Urt.v.06.02.2001- VI ZR 339/99). Auch an anderen Stellen sind in der obergerichtlichen Rechtsprechung pauschalierte Abzüge zu verzeichnen (etwa OLG Frankfurt, Urt.v.22.02.2010 – 16 U 146/06).

Dem lässt sich durch den bearbeitenden Rechtsanwalt sowohl beim Verkehrsunfall als auch in  der Regulierung der Arzthaftung  wirksam durch eine möglichst detaillierte Schilderung der eingetretenen Schäden entgegen treten. Dies gilt auch nicht nur im Rahmen der hier bearbeiteten Frage nach dem Schadensersatz. Auch der Vortrag zum Schmerzensgeld ist durch den Rechtsanwalt möglichst detailliert vorzunehmen. Namentlich sollte nicht nur die Verletzung(en) benannt werden, sondern vielmehr weitere Ausführungen zu den konkreten Beeinträchtigungen des Geschädigten im Alltag erfolgen. Diese Vorgehensweise erschwert die Vornahme pauschaler Abzüge in erheblichem Maße.

Steuerersparnisse infolge von Sozialleistungen sind natürlich zu berücksichtigen. Leistungen mit Lohnersatzfunktion (Krankengeld, Verletztengeld, Übergangsgeld, Verletztenrente) oder in geringem Umfang (Ertragsanteil einer Rente wegen Erwerbsminderungsrente oder einer Altersrente) der Einkommensteuerpflicht.  Soweit tatsächlich Steuern auf die Ersatzleistungen entfallen, sind diese durch den Geschädigten mittels Steuerbescheid nachgewiesen werden. Sie sind trotz Übergangs der Anspruchsberechtigung auf den Sozialleistungsträger (§ 116 SGB X) ersatzfähiger Schaden, da sie ja vom Geschädigten selbst zu tragen sind. 

III. Schadensminderungspflicht

Grundsätzlich ist der Geschädigte soweit er unfallbedingt oder aufgrund eines Behandlungsfehlers in seinem alten Beruf nicht mehr oder nicht mehr voll arbeiten kann, verpflichtet, seine verbliebene Arbeitskraft – unter Umständen durch Teilzeitarbeit – in den Grenzen des Zumutbaren und möglichen so nutzbringend wie möglich einzubringen. Ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht kann bereits dann vorliegen, wenn sich der Verletzte nicht in zumutbarer Weise um eine Arbeitsstelle bemüht und anzunehmen ist, dass eine Beschäftigung hätte gefunden werden können (OLG Schleswig NZV 2015,42; BGH NZV 2007,29). Die in Ausübung der Schadensminderungspflicht tatsächlich erzielten oder, bei Nichtausübung dieser Pflicht, erzielbaren fiktiven Einkünfte sind auf die schädigungsbedingten entgangenen Einkünfte anzurechnen.

In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass der Geschädigte nicht überobligatorisch tätig werden muss. Unter „überobligatorischen Tätigkeiten“ werden insbesondere solche verstanden, die über die eigenen Belastbarkeitsgrenze hinausgehen. Es ist auch nicht erforderlich, dass der Verletzte sich wahllos auf jede erdenkliche Stelle bewirbt. Allerdings sind weniger qualifizierte Tätigkeiten nach der Rechtsprechung durchaus zumutbar. Im Rahmen der Zumutbarkeit ist der bisherige berufliche Werdegang und die Ausbildung des Geschädigten zu berücksichtigen. Ist dem Verletzten die Ausübung des erlernten Berufs nicht mehr oder nur noch unter erheblich schlechteren Bedingungen möglich, muss der Geschädigte auch zu Umschulungsmaßnahmen greifen (BGH NJW 1991,S.1412; BGH NJW 1997,S.3381). Diese Form der Schadensminderungspflicht bei Personenschaden setzt allerdings voraus, dass nach der Umschulungsmaßnahme überhaupt eine gewisse Aussicht einer nutzbringenden Tätigkeit in dem neu erlernten Beruf besteht. Zudem kommen der beruflichen Neigung und Begabung des Verletzten eine erhebliche Bedeutung zu.

Wird der Geschädigte seine Schadensminderungspflicht hinaus, d.h. überobligatorisch, tätig, so ist vom bearbeitenden Rechtsanwalt darzulegen, dass Einkünften aus solchen Erwerbstätigkeiten nicht auf den Erwerbsschaden angerechnet werden.

Mitgeteilt von: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Björn Weil in Gießen/Wetzlar.

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