Medizinrecht – Arzthaftung

Nicht nur die Frage, ob ein „grober“ oder ein „einfacher Behandlungsfehler vorliegt ist entscheidend für die Beweislastverteilung im Arzthaftungsverfahren. Auch die Frage des „Fehlertyps“ ist entscheidend für die Beweislasten im Arzthaftungsverfahren. So führt ein Diagnosefehler in der Regel nicht zu einer Beweislastumkehr, während auf Grundlage des § 630h Abs.5 S.2 BGB bei einem Befunderhebungsfehler in der Regel zu einer Beweislastumkehr kommt. Ein Diagnosefehler liegt vor, wenn erhobene Befunde nicht ordnungsgemäß ausgewertet werden, so etwa Fehlinterpretationen eines MRT/CT/Ultraschallbildes. Ein Befunderhebungsfehler liegt hingegen vor, wenn eine gebotene Befunderhebung nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt wurde und der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis gebracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre „St.Rspr.: Zum Beispiel BGH VI ZR40/94“.

Die Abgrenzung ist in der Praxis jedoch nicht immer so leicht, wie es die Theorie vermuten lässt. Im Streitfalle nimmt die Rechtschprechung eine Abgrenzung nach dem „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ vor. Da in Arzthaftungsangelegenheiten die Beweislast oft von entscheidender Bedeutung ist, hat die Abgrenzung oft streitentscheidende Einfluss auf das gerichtliche Verfahren.

Dazu ein Beispiel  ( BGH, Urt.v. 21.12.2010 – VI ZR 284/09″>BGH, Urt.v. 21.12.2010 – VI ZR 284/09 ), dass geradezu aus dem Schulbuch stammen könnte:

Ein Anästhesist hatte zwecks Narkosevorbereitung für eine Meniskusoperation eine Röntgenaufnahme der Lunge vornehmen lassen. Auf dem Röntgenbild war ein Rundherd zu sehen. Rundherde  in der Lunge sind aber Hinweise auf eine schwerwiegende Erkrankung, wie Tumore, Infektionen und Granulome (https://de.wikipedia.org/wiki/Lungenrundherd). Eine weitere Abklärung des Befundes wurde nicht vorgenommen. Tatsächlich wurde ein Jahr später aber ein entsprechendes Karzinom festgestellt. Die Patientin verstarb infolge des Karzinoms.

Das Berufungsgericht hatte noch einen Befunderhebungsfehler angenommen, da der Anästhesist es versäumt habe, eine weitere Abklärung vornehmen zu lassen. Dem ist jedoch der Bundesgerichtshof entgegengetreten. Der BGH hat im vorliegenden Fall ausgeführt: „Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende fachliche Befunde falsch interpretiert und deshalb die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachgebiets gebotenen therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen ergreift.“. Insbesondere führt er zur Abgrenzung weiter aus, dass „ein Diagnosefehler nicht dadurch zum Befunderhebungsfehler werde, dass bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wäre“.

Da vorliegend der medizinische Sachverständige zu der Auffassung gelangt war, dass nicht sicher gesagt werden könne, ob die Abklärung des Rundherdes dazu geführt hätte, dass die Patientin noch länger gelebt hätte kam es vorliegend entscheidend darauf an, ob der Kläger beweisen musste, dass eine ordnungsgemäße Behandlung den Schadeneintritt verhindert hätte oder der Arzt, dass eine ordnungsgemäße Behandlung auch nicht geholfen hätte. Damit aber kam es vorliegend genau darauf an, ob ein Diagnosefehler (Beweislast des Klägers) oder ein Befunderhebungsfehler (Beweislast des Beklaten) an.

Ergänzend sei aber vorliegend darauf hingewiesen, dass nicht jeder Diagnosefehler dazu führt, dass kein Raum mehr für die Annahme eines Befunderhebungsfehler besteht. So hat der BGH ausgeführt:

“ Ein Diagnoseirrtum setzt aber voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erstgar nicht veranlasst hat – er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären- dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (vgl. Senatsurteil vom 08. Juli 2003 – VI ZR 304/02, VersR 2003, 1256, 1257;  vom 3. November 1998 – VI ZR 253/97, VersR 1999, 231, 232; vom 10. November 1987 – VI ZR 39/87, VersR 1988, 293, juris Rn.14). “

Vorsicht! Verspätung! (§ 630h Sbd.5 S.2 BGB)

Immerhin hat der Gesetzgeber nunmehr festgeschrieben, dass auch die verspätete Erhebung eines Befundes einen Behandlungsfehler darstellen kann. Der Entscheidung des BGH vom 21.01.2014 ( BGH, Urt.v. 21.01.2014 – VI ZR 78/13) – die freilich noch unter dem vorherigen Rechtsregime erging – hatte genau einen solchen Fall zum Gegenstand. Die Patientin und spätere Klägerin war in eine Klinik gegangen, da sie aufgrund einer Thrombose der inneren Hirnnerven unter erheblichen Beschwerden litt.
Nach den Ausführungen des Sachverständigen machten der erkennbare CT – Befund, die Liquoruntersuchung, die ein entzündliches Geschehen ausschloss, und das unklare klinische Beschwerdebild (Babinski -Zeichen rechts), was auf eine Betroffenheit der linken Hirnhälfte hinwies, und eine minimale Facialisschwäche rechts) eine sofortige weitere Hirndiagnostik zwingend erforderlich. Der dort konsiliarisch tätige Arzt erkannte die dringende Notwendigkeit weiterer Abklärung der Beschwerden in Form einer Hirndiagnostik. Da die Klinik jedoch für die weiterführende Diagnostik nicht hinreichend ausgestattet war, konnte die weitere Befunderhebung nicht in der Klinik vorgenommen werden. Daher wäre die umgehende Verlegung in ein Nurozentrum geboten gewesen. Der beklagte Arzt hatte die Verlegung in das Universitätsklinikum Lübeck jedoch erst am nächsten Tag.

Der BGH führt in der zitierten Entscheidung dazu aus: „Erkennt ein Arzt, dass das unklare klinische Beschwerdebild des Patienten umgehend weitere diagnostische Maßnahmen (hier: Hirndiagnostik) erfordert, verschiebt er die wegen unzureichender Ausstattung der Klinik erforderliche Verlegung in ein ausreichend ausgestattetes Krankenhaus aber auf den nächsten Tag, liegt ein Befunderhebungsfehler, nicht aber ein Diagnosefehler vor.“

Mitgeteilt von: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Gießen; Björn Weil

Fachanwalt für Medizinrecht, Frankfurter Straße 219, 35398 Gießen, Telefon: 0641 / 97 24 88 11, E-Mail: info@weil-rechtsanwalt.de