Medizinrecht – Haftungsrecht – Pflegeheim

Zu den Verkehrssicherungspflichten von Pflegeheimen bei Demenzkranken hat die dritte Kammer des Bundesgerichtshofs im Januar ein weiteres Urteil erlassen.  Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung des Heimträgers hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich und geistig beeinträchtigten (demenzkranken) Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, könne nicht generell, sondern nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden. Ausschlaggebend sei  dabei  die Gefahrenlage wie sich um Zeitpunkt der selbstschädigenden Handlung für das Pflegheim darstellte. Insbesondere bleibt der BGH auch bei seiner Linie, dass erhöhte Sorgfaltspflichten jedenfalls dann bestehen, wenn die eine „konkrete Gefahrenlage“ besteht. Zur Beurteilung der Gefahrenlage stellt er im vorliegenden Fall insbesondere auf die festgestellte zeitlich und räumliche Desorientierung, die Weglauftendenzen und die motorische Unruhe ab. Ebenso zieht er die bereits festgestellten Sturzgefährdungen heran. All dies betrachtet er als gefahrerhöhende Umstände, die besondere Sicherungspflichten auch in Lebensbereichen, in denen der Heimbewohner nicht unter voller Kontrolle des Pflegeheims steht erforderlich machen. 

Interessant an dem Urteil ist insbesondere, dass der BGH ausdrücklich attestiert, dass fernliegende Gefahren ebenfalls zu berücksichtigen sind, wenn deren Realisierung mit erheblichen Schäden des Pflegebedürftigen einhergeht.  

Im entschiedenen Fall war ein körperlich noch munterer aber an Demenz und Korsakow erkrankter Bewohner der regelmäßig Weglauftendenzen und Sturzgefahren gezeigt hatte aus einem offenen Fenster im dritten Stock gesprungen.  Ebenso interessant ist, dass der BGH in seinem Urteil wieder ausführt, dass eine Pflichtverletzung des Heims bereits dann bestehen können, wenn es nicht (mindestens) die üblichen Sicherungsmaßnahmen wie sie in anderen Pflegeheimen üblich sind beachte und einhalte. Vorliegend bezieht der BGH sich dabei auf die baulichen Sicherheitsstandards. 

Ausgewertet und mitgeteilt von: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Gießen und Wetzlar Björn Weil

BGB § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1, § 823
a) Bei der Beurteilung der Notwendigkeit von Vorkehrungen zur Verhinderung einer Selbstschädigung durch den Bewohner eines Pflegeheims ist maßgebend, ob im Einzelfall wegen der körperlichen oder geistigen Verfassung des
Bewohners aus der ex-ante-Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste,dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte. Dabei muss auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bereits eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vomApril 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53 und vom 22. August 2019 – III ZR 113/18, BGHZ 223, 95).

b) Bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr darf ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem – zumal im Obergeschoss gelegenen – Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht hingegen keine Pflicht zu besonderen (vorbeugenden) Sicherungsmaßnahmen.

Mitgeteilt von: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Gießen und Wetzlar Björn Weil


BGH, Urteil vom 14. Januar 2021 – III ZR 168/19
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. Januar 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Herrmann und die Richter Dr. Remmert, Reiter, Dr. Kessen und Dr. Herr für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. November 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auchüber die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.


Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus übergegangenem und abgetretenem Recht auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes wegen tödlicher Verletzungen in Anspruch, die ihr Ehemann (im Folgenden: Erblasser) bei dem
Sturz aus einem Fenster in einem Alten- und Pflegeheim erlitten hat. Sie ist gemeinsam mit ihrer Tochter dessen Erbin in ungeteilter Erbengemeinschaft. Der 1950 geborene Erblasser war seit dem 25. Februar 2014 Bewohner
eines von der Beklagten betriebenen Alten- und Pflegeheims. Er war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms sowie psychisch-motorischer Unruhe. Ausweislich eines unter dem 27. Juli 2014 erstellten Verlegungsberichts war er örtlich, zeitlich, räumlich und situativ sowie zeitweise zur Person desorientiert. Die Notwendigkeit besonderer Betreuung wurde im Hinblick auf Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtliche Unruhe und zeitweise Sinnestäuschungen bejaht (Anlage K 2 zur Klageschrift = GA I 10-13). Die Beklagte brachte den Erblasser in einem Zimmer im dritten Obergeschoss (Dachgeschoss) unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die gegen unbeaufsichtigtes Öffnen nicht gesichert waren. Der Abstand zwischen dem Fußboden und den Fenstern betrug 120 Zentimeter. Vor den Fenstern befanden sich ein 40 Zentimeter hoher Heizkörper sowie in 70 Zentimetern Höhe eine Fensterbank, über die man gleichsam stufenweise zur Fensteröffnung gelangen konnte. Am Nachmittag des 27. Juli 2014 stürzte der Erblasser aus einem
der beiden Fenster. Dabei erlitt er schwere Verletzungen, an denen er trotz mehrerer Operationen und Heilbehandlungen am 11. Oktober 2014 verstarb.
Die Klägerin hat geltend gemacht, die Beklagte habe geeignete Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Fenstersturzes unterlassen. Aus dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 19. Dezember 2013 (Anlage K 2a zur Klageschrift = GA I 14-19), den Pflegeberichten (Anlagen K 1 und K 2 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 139-157) und dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 hätten sich zwingende Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung ergeben. Der Erblasser sei gerade auf Grund seiner Demenz mit Gedächtnisstörungen im Pflegeheim der Beklagten untergebracht worden. Dieser habe sich die Möglichkeit eines Sturzes geradezu aufdrängen müssen. Vor diesem Hintergrund stelle die Unterbringung des Erblassers im dritten Obergeschoss in einem Zimmer, dessen Fenster leicht zu öffnen oder zum Lüften bereits geöffnet gewesen seien, eine erhebliche Pflichtverletzung dar.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Sie habe ihre Überwachungs- und Fürsorgepflichten nicht verletzt. Begründete Anhaltspunkte für eine Selbstschädigungs- oder Suizidgefahr hätten nicht vorgelegen. Zu einer dauerhaften Überwachung des Erblassers sei sie nicht verpflichtet gewesen. Das Landgericht hat die auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat keinen
Erfolg gehabt. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt
sie ihr Klagebegehren weiter.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Ein auf die Erben übergegangener Schmerzensgeldanspruch des Erblassers (§ 253 Abs. 2 BGB) ergebe sich weder aus § 280 Abs. 1 i.V.m. §§ 278, 611
BGB noch aus § 823 Abs. 1, § 831 BGB. Dem Vortrag der darlegungs- und beweispflichtigen Klägerin und den vorgelegten Unterlagen könne nicht entnommen werden, dass die Beklagte ihre vertraglichen Obhutspflichten oder die allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Allein aus dem Umstand, dass ein Heimbewohner im Bereich des Pflegeheims stürze und sich dabei verletze, könne nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals geschlossen werden. Der Erblasser habe sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation befunden, die gesteigerte Obhutspflichten ausgelöst habe und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut gewesen sei. Der Sturz habe sich vielmehr im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet, welcher grundsätzlich der jeweils eigenverantwortlichen Risikosphäre des Geschädigten zuzurechnen sei (Hinweis auf Senatsurteil vom 28. April 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53). Vorkehrungen gegen ein Hinausklettern über das Fenster hätten nur dann getroffen werden müssen, wenn mit einer solchen Selbstgefährdung wegen der Verfassung des Erblassers und seines Verhaltens (ernsthaft) hätte gerechnet werden müssen. Hierfür fehlten hinreichende Anhaltspunkte. Technische Regelungen (z.B. DIN-Normen), die Vorkehrungen gegen das Heraussteigen aus dem Fenster in einem Alten- und Pflegeheim vorsähen und gegebenenfalls zur Konkretisierung des Umfangs der Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten der Beklagten herangezogen werden könnten (Hinweis auf Senatsurteil vom 22. August 2019 – III ZR 113/18, BGHZ 223, 95), existierten nicht. Allein daraus, dass in dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 Unruhezustände, eine Lauftendenz sowie Selbstgefährdung bejaht worden seien und der Erblasser möglicherweise zuletzt viel Freude an Aufenthalten im Garten empfunden habe, habe sich für die Beklagte und das Pflegepersonal keine Besorgnis ergeben müssen, er könnte versuchen, durch Klettern aus einem Fenster nach draußen zu gelangen. Vielmehr belegten die Pflegeberichte, dass der Erblasser sich vor dem Fenstersturz lediglich in dem Heimbereich bewegt und insoweit unkontrollierte Lauftendenzen aufgewiesen habe. Das nur unter dem 26. Februar 2014 dokumentierte mehrfache Herausklettern aus einem RCN-Walker (Gehwagen) sei mit dem Hinausklettern durch ein Fenster nicht vergleichbar. Soweit in dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 von Selbstgefährdung die Rede sei, sei nicht ersichtlich, in welcher Hinsicht diese bestanden habe. Allein der geistige Zustand des Erblassers und das daraus resultierende inadäquate Verhalten in anderen Bereichen hätten es nicht erforderlich gemacht, Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich der Fenster zu ergreifen.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.
Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch (§ 253 Abs. 2 BGB) wegen Verletzung einer vertraglichen Schutzpflicht (§ 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 278 Satz 1 BGB) beziehungsweise einer deliktischen Verkehrssicherungspflicht (§ 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 831 BGB) nicht verneint werden. Bei der gebotenen Abwägung der gesamten Umstände des Einzelfalls sind wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt geblieben. Insbesondere fehlt eine medizinisch fundierte Risikoprognose im Hinblick auf die durch ausgeprägte Demenzerscheinungen gekennzeichnete geistige und körperliche Verfassung des Erblassers.

Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass durch den Heimvertrag Obhutspflichten der Beklagten gemäß § 241 Abs. 2 BGB zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des ihr anvertrauten Erblassers begründet wurden. Ebenso bestand eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der Bewohner vor gesundheitlichen Schädigungen, die ihnen wegen Krankheit oder sonstiger körperlicher oder geistiger Einschränkungen durch sie selbst oder durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Heims drohten. Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflichten war geeignet, sowohl einen Schadensersatzanspruch wegen vertraglicher Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1, § 278 Satz 1 BGB) als auch einen damit korrespondierenden deliktischen Anspruch aus §§ 823, 831 BGB zu begründen (Senatsurteile vom April 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53, 55 und vom 22. August 2019 III ZR 113/18, BGHZ 223, 95 Rn. 12; jeweils mwN).

  1. Das Berufungsgericht hat auch gesehen, dass diese Pflichten auf die in vergleichbaren Heimen üblichen gebotenen Maßnahmen begrenzt sind, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab ist das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare. Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung
    und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 HeimG; Senatsurteile vom 28. April 2005 aaO und vom August 2019 aaO Rn. 13).
  2. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung des Heimträgers hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich und geistig beeinträchtigten (demenzkranken) Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden (Senatsurteile vom 28. April 2005 aaO S. 55 und vom 22. August 2019 aaO Rn.14; siehe auch OLG Koblenz, NJW-RR
    2002, 867, 868).
    a) Entscheidend ist jeweils, welchen Gefahren der Bewohner auf Grund seiner individuellen körperlichen und geistigen Verfassung ausgesetzt ist. Der Maßstab für die einzuhaltende Sorgfalt und die eventuell zu treffenden Sicherungsvorkehrungen ergibt sich daher aus einer ex-ante-Betrachtung, die sich losgelöst von den abstrakt denkbaren Sicherheitsrisiken an der konkreten Pflegesituation zu orientieren hat (vgl. BeckOGK/Spindler, BGB, § 823 Rn. 1016 [Stand: November 2020]). Maßgebend ist, ob im Einzelfall wegen der Verfassung des pflegebedürftigen Bewohners aus der ex-ante-Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte (vgl. OLG Düsseldorf, OLGR 2004, 362, 363; Urteile vom 28. April 2005
  • I-8 U 120/04, juris Rn. 28 und vom 16. Juni 2005 – I-8 U 124/03, juris Rn. 36; OLG Köln, GesR 2010, 691, 692; OLG Dresden, Urteil vom 2. Juli 2010 – 4 U 307/10, juris Rn. 7; OLG Hamm, Urteil vom 7. November 2011 – 3 U 140/11, juris Rn. 30; Thüringer OLG, NJW-RR 2012, 1419; OLG Hamm, FamRZ 2017, 1439).
    Dabei muss allerdings auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bereits eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen (vgl. Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 25).
    Erst wenn eine solche Risikoprognose getroffen wurde, aus der sich ergibt, mit welchen – auch unkalkulierbaren – Verhaltensweisen aus medizinischer Sicht auf Grund der geistigen und körperlichen Verfassung des Bewohners
    zu rechnen ist, können eine etwaige Selbstschädigungsgefahr, die erforderlichen Einschränkungen des persönlichen Freiheitsbereichs des Heimbewohners sowie die personellen und finanziellen Möglichkeiten eines Pflegeheims sachgerecht gegeneinander abgewogen werden.
  • b) Entsprechend diesen Grundsätzen hat der Senat in dem Urteil vom August 2019 keine generelle Pflicht angenommen, die Trinkwasserinstallation in den Zimmern der Heimbewohner mit technischen Einrichtungen zur Begrenzung der Wassertemperatur auszurüsten, sondern eine Obhutspflichtverletzung gerade und nur wegen der individuellen Verfassung der Bewohnerin und ihrer Unfähigkeit, die Gefahrenlage zu beherrschen, bejaht (aaO Rn. 24–26).
    Vergleichbar hat der Senat in einem Fall argumentiert, in dem ein Patient auf einer geschlossenen psychiatrischen Station einer Klinik in suizidaler Absicht ein Fenster gewaltsam geöffnet und durch einen Sprung aus dem Fenster schwere Verletzungen erlitten hatte (Urteil vom 31. Oktober 2013 – III ZR 388/12, NJW 2014, 539 Rn. 15, 17). Der Senat hat keine generelle Pflicht angenommen, sämtliche Räume der Station mit nicht zu öffnenden Fenstern auszustatten, sondern die zugunsten des Patienten bestehende Schutzpflicht nur darin gesehen, ihn bei erkannter oder erkennbarer Suizidabsicht nicht in einem normalen Patientenzimmer mit zu öffnenden oder kippbaren Fenstern unterzubringen. Eine Pflichtverletzung wurde verneint, weil keine konkreten Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung bestanden und der Selbstmordversuch nicht vorhersehbar war (vgl. auch BGH, Urteil vom 20. Juni 2000 – VI ZR 377/99, NJW 2000, 3425 zu Schutzmaßnahmen in einer offenen Station einer psychiatrischen Klinik gegen einen Sprung vom Balkon).
    Dementsprechend darf bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr ein (hochgradig) an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem – zumal im Obergeschoss gelegenen – Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht hingegen keine Pflicht zu besonderen (vorbeugenden) Sicherungsmaßnahmen. Die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, die Beklagte und das betreuende Pflegepersonal hätten Vorkehrungen gegen ein Heraussteigen des Erblassers aus einem der Fenster seines Heimzimmers für entbehrlich halten dürfen, ist unvollständig und somit rechtsfehlerhaft, weil für die zu treffende Abwägungsentscheidung wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden. Das Berufungsgericht hätte insbesondere auf der Grundlage einer sorgfältigen, das gesamte Krankheitsbild des Pflegebedürftigen in den Blick nehmenden ex-ante-Risikoprognose – gegebenenfalls sachverständig beraten – entscheiden müssen. Stattdessen hat es sich damit begnügt, einzelne dokumentierte Demenzerscheinungen lediglich isoliert und eher kursorisch zu betrachten, ohne insoweit eigene besondere Sachkunde auszuweisen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 – VI ZR 106/17, NJW 2018, 2730 Rn. 16).
    a) Das Berufungsgericht hat bereits keine Feststellungen dazu getroffen, ob in vergleichbaren Pflegeheimen bei der Unterbringung von demenzkranken Patienten, bei denen unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen möglich erscheinen, Fenstersicherungen oder gleichwertige Sicherungsmaßnahmen zum üblichen Standard in den Wohnräumen gehören. Derartige Feststellungen waren erforderlich, weil sich der Pflichtenumfang eines Heimträgers nach der Senatsrechtsprechung (auch) an den in vergleichbaren Pflegeheimen üblichen Maßnahmen orientiert (Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 18). So wurden in der obergerichtlichen Rechtsprechung bei Verwirrtheitszuständen und Weglauftendenzen notwendige Vorkehrungen gegen ein Hinaussteigen durch das Fenster schon frühzeitig als zwingend geboten angesehen (z.B. OLG Düsseldorf, Urteil vom 16. Juni 2005 – I-8 U 124/03, juris Rn. 39). Sollte die Sicherung von Fenstern ein üblicher Sicherheitsstandard sein, könnte allein dessen Fehlen den Vorwurf einer Pflichtverletzung begründen.
    b) Nach den Feststellungen der Vorinstanzen, die vor allem auf dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 19. Dezember 2013, den Pflegeberichten bis zum 27. Juli 2014 und dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 beruhen, lagen bei dem Erblasser schon zu Beginn seines Aufenthalts im Pflegeheim der Beklagten schwere Demenzerscheinungen vor. Er litt nicht nur unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms und zeitweise unter Sinnestäuschungen, sondern wies auch – bei hoher Mobilität – eine psychisch-motorische Unruhe mit unkontrollierten Lauftendenzen auf. Indem er mehrfach aus dem ihm zugewiesenen Gehwagen herauskletterte, stellte er eine gewisse motorische Geschicklichkeit unter Beweis. Darüber hinaus zeigte er inadäquate Verhaltensweisen mit Selbstgefährdungstendenzen und war zeitlich, örtlich, räumlich und situativ sowie zeitweise auch zur Person desorientiert. Die Pflegedokumentation verzeichnet zahlreiche Ereignisse, bei denen der Erblasser unruhig war, über die Etage lief und diese teilweise auch verließ. Zum Beispiel wurde er am 28. April 2014 mehrmals im Treppenhaus aufgefunden. Am 3. Mai 2014 verließ er die Etage durch den Notausgang. In dem Bericht vom 15. Februar 2014 des Pflegeheims, in dem der Erblasser zuvor untergebracht war (Anlage K 1 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 139), ist dokumentiert, dass zeitweises Halluzinieren und Hinlauftendenzen „in extremem Maße“ vorhanden waren und Sturzgefahr bestand, weil der Erblasser sich unkontrolliert und orientierungslos dem Treppenabsatz näherte. Da die leicht zu öffnenden, nicht gesicherten Fenster in dem dem Erblasser zugewiesenen Zimmer über den davor befindlichen Heizkörper und das Fensterbrett gleichsam treppenartig erreicht werden konnten, war es für einen zwar dementen, aber körperlich nicht besonders eingeschränkten Bewohner – wie den Erblasser – ohne weiteres möglich, zur Fensteröffnung zu gelangen und nach draußen auf eine 60 Zentimeter tiefe horizontale Dachfläche zu treten.
    c) Bei dieser Sachlage konnten unkontrollierte und unkalkulierbare selbstschädigende Handlungen infolge von Desorientierung und Sinnestäuschungen jedenfalls ohne sachverständige medizinische Beratung – nicht von vornherein ausgeschlossen werden, wobei auch ein Verlassen des Zimmers über ein leicht zugängliches, möglicherweise sogar geöffnetes Fenster (siehe Ermittlungsbericht des Polizeipräsidiums Bochum vom 27. Juli 2014, S. 3 = Anlage 3 zur Klageschrift = GA I 22) in Betracht gezogen werden musste (vgl. OLG Hamm,
    FamRZ 2017, 1439). Ein ungesichertes Fenster – zumal im dritten Obergeschoss – war für den Erblasser nicht nur mit einer abstrakten Gefahr verbunden. Auf Grund seiner hochgradigen Demenzerkrankung konnte er möglicherweise nicht erkennen, dass das leicht zugängliche Fenster nicht zum Verlassen des Zimmers geeignet war. In diesem Zusammenhang ist auch näher in den Blick zu nehmen, dass der Erblasser ausweislich der Pflegedokumentation in den letzten Wochen vor dem Fenstersturz mehrfach begleitete Spaziergänge im Garten des Pflegeheims unternommen und erkennbar große Freude empfunden hatte (Anlage K 2 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 151, 154/155).
    Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob ein solcher Unglücksfall nahelag. Wie bereits ausgeführt, kann auch eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, Sicherungspflichten des Heimträgers auslösen. Angesichts der Schwere der bei einem Sturz aus einem Fenster des dritten Obergeschosses drohenden Körperschäden musste die Beklagte auch einer nicht sehr wahrscheinlichen, aber gleichwohl nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossenen Gefahrverwirklichung
    Rechnung tragen (vgl. Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 25). Dies hat das Berufungsgericht übersehen.
  1. Eine etwaige Pflichtverletzung der Beklagten wäre auch fahrlässig im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB (i.V.m. § 280 Abs. 1 Satz 2, § 278 Satz 1 beziehungsweise § 831 BGB). Bei erkennbarer, nicht lediglich abstrakt bestehender
    Selbstschädigungsgefahr war die Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung eines Fenstersturzes zwingend geboten. Es hätte zum Beispiel ausgereicht, verschließbare Fenstergriffe anzubringen oder die Fenster in
    Kippstellung zu verriegeln. Für die Menschenwürde und das Freiheitsrecht des Heimbewohners hätte dies keine unzumutbare Beeinträchtigung bedeutet.
    III.
  2. Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Da weitere Feststellungen zu treffen
    sind, ist der Senat zu einer eigenen Sachentscheidung nach § 563 Abs. 3 ZPO nicht in der Lage.
  3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht ungeachtet der rechtsfehlerhaft unterlassenen Feststellungen die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen einer Pflichtverletzung der Bediensteten der Beklagten richtig beurteilt hat.
    Es hat das Sturzgeschehen zutreffend dem „normalen, alltäglichen Gefahrenbereich“ im Heim zugeordnet. Kommt der Bewohner in einer solchen Situation zu Schaden, fällt dies grundsätzlich in seine Risikosphäre mit der Folge, dass er für die Pflichtverletzung des Heimträgers und deren Kausalität darlegungs- und beweisbelastet ist (Senatsurteil vom 28. April 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53, 56 f). Die mit der Unterbringung in einem üblichen Heimwohnraum verbundenen Gefahren gehören grundsätzlich zum allgemeinen Lebensrisiko und betreffen nicht den vom Heimträger voll beherrschbaren Gefahrenbereich. Das Berufungsgericht hat es daher zu Recht abgelehnt, allein aus dem Umstand, dass der Erblasser aus dem (nicht verriegelten) Fenster seines Zimmers gestürzt ist, auf
    eine kausale und schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals der Beklagten zu schließen.
    a) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt dem Verletzten als Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs eine Beweislastumkehr dahingehend, dass der Schuldner den Nachweis seines pflichtgemäßen Verhaltens führen muss, allerdings dann zugute, wenn der Gläubiger im Herrschafts- und Organisationsbereich des Schuldners zu Schaden gekommen ist und die den Schuldner treffenden Vertragspflichten (auch) bezweckten, den Gläubiger gerade vor einem solchen Schaden zu bewahren. Danach muss der Krankenhausträger bei Risiken insbesondere aus dem Krankenhausbetrieb, die von der Klinik
    und dem dort tätigen Personal voll beherrscht werden können, darlegen und beweisen, dass der Schaden nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten beruht (BGH Urteil vom 18. Dezember 1990 – VI ZR 169/90, NJW 1991, 1540, 1541: Beweislastumkehr zulasten des Krankenhausträgers, wenn ein Patient bei einer Bewegungs- und Transportmaßnahme der ihn betreuenden Krankenschwester stürzt; siehe nunmehr § 630h Abs. 1 BGB). Daran anknüpfend hat der Senat – bezogen auf den Betrieb eines Pflegewohnheims – für eine Beweislastumkehr das Vorliegen einer konkreten Gefahrensituation verlangt, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut worden war. Es genügt nicht, dass sich ein Schaden in den Räumen beziehungsweise im Bereich des Pflegeheims ereignet hat (Senatsurteil vom
  4. April 2005 aaO S. 56; siehe auch OLG Dresden, NJW-RR 2000, 761: Sturz einer Pflegeheimbewohnerin beim begleiteten Gang zur Toilette; OLG Hamm, MDR 2012, 153: Sturz einer Pflegeheimbewohnerin beim Wechseln der Bettwäsche durch einen Pfleger).
    b) Nach diesen Grundsätzen kommt eine Beweislastumkehr im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Zwar hat die Beklagte die Gefahrensituation, die sich im Sturz des Erblassers verwirklicht hat, eröffnet, indem sie ihn in einem Zimmer ohne Fenstersicherung untergebracht hat. Dies rechtfertigt aber nicht die Annahme einer konkreten Gefahrensituation, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste. Der Vorfall ereignete sich vielmehr außerhalb des voll beherrschbaren Gefahrenbereichs des Heimträgers. Der Erblasser war zum Zeitpunkt des Fenstersturzes nicht der Obhut einer Pflegekraft im Rahmen einer konkreten Pflege- oder Betreuungsmaßnahme anvertraut. Er hielt sich überwiegend allein in seinem Zimmer auf und musste nicht dauerhaft persönlich betreut und begleitet werden (siehe auch OLG Hamm, NJW-RR 2003, 30, 31; OLG München, VersR 2004, 618, 619; OLG Köln, VersR 2015, 1393, 1394; OLG Düsseldorf, VersR 2017, 501, 502 f; jeweils zu Schadensfällen außerhalb der unmittelbaren Risikosphäre
    des Heimträgers).

    LG Bochum, Entscheidung vom 08.11.2018 – I-8 O 8/18 –
    OLG Hamm, Entscheidung vom 20.11.2019 – I-12 U 9/19

Mitgeteilt von: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Gießen und Wetzlar Björn Weil

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