Medizinrecht – Arzthaftung / Pflegerecht

Der  Bundesgerichtshof (Urteil vom 11. Mai 2017 – III ZR 92/16) hat entschieden, dass  bei grober Verkennung eines akuten medizinischen Notfalls im Rahmen eines Hausnotrufvertrags eine Umkehr der Beweislast zugunsten des geschädigten Vertragspartners eingreift.


Der 1934 geborene und während des Berufungsverfahrens  verstorbene Kläger nahem den Beklagten auf Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit einem Hausnotrufvertrag in Anspruch. Er hatte mit der Beklagen einen Hausnotrufvertrag geschlossen, der unter anderem vorsah, dass bei einem Notfall angemessene Hilfe vermittelt werde. Auf dem Erhebungsbogen zu dem Hausnotrufvertrag hatte der Kläger angegeben, er leid unter arterieller Hypertonus, Makroangiopathie, chronische Bronchitis sowie Herzrythmusstörungen und Diabetes mellitus. Der Kläger war auf verschiedene Medikamente sowie eine künstliche Sauerstoffzufuhr angewiesen. Er lebte mit der Plegestufe 2 in einem Seniorenwohnheim und hatte ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. Nach seinem Tod traten die beiden Töchter als Erbinnen des Verstorbenen in die Klage ein und verfolgten die Angelegenheit weiter.

Am 9. April 2012 betätigte der Kläger den direkten Notruf zur Zentrale des Beklagten. Der den Anruf entgegennehmende Mitarbeiter des Beklagten vernahm lediglich ein Stöhnen. Mehrere Versuche, den Kläger telefonisch zu erreichen, scheiterten. Der Beklagte veranlasste daraufhin, dass ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes  sich zu der Wohnung des Klägers begab. Dieser fand den Kläger am Boden liegend vor. Es gelang ihm nicht, ihn aufzurichten. Nach Hinzuziehung eines weiteren Mitarbeiters konnte der Kläger schließlich mit vereinten Kräften auf eine Couch gesetzt werden. Sodann ließen die beiden Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes den Kläger allein in der Wohnung zurück, ohne eine ärztliche Versorgung zu veranlassen. Am 11. April 2012 wurde der Kläger in der Wohnung liegend aufgefunden und mit einer Halbseitenlähmung sowie einer Aphasie (Sprachstörung) in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort wurde ein nicht mehr ganz frischer Schlaganfall diagnostiziert.

Der Kläger hat behauptet, er habe gegen Mittag des 9. April 2012 einen Schlaganfall erlitten. Dessen gravierende Folgen wären vermieden worden, wenn der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter des Beklagten einen Rettungswagen mit medizinisch qualifizierten Rettungskräften geschickt hätte.

Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schadensersatz und eines angemessenen Schmerzensgeldes (mindestens 40.000 €) sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Auch die dagegen gerichtete Berufung war erfolglos. Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen die Klägerinnen das Klagebegehren weiter.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der u.a. für das Dienstvertragsrecht zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass der Beklagte die ihm nach dem Hausnotrufvertrag obliegenden Schutz- und Organisationspflichten grob vernachlässigt hat und deshalb eine Beweislastumkehr zugunsten des geschädigten Vertragspartners eingreift, soweit es um die Frage geht, ob die schwerwiegenden Folgen des Schlaganfalls auch bei rechtzeitiger Hinzuziehung eines Rettungsdienstes eingetreten wären.

Bei dem Hausnotrufvertrag handelt es sich um einen Dienstvertrag im Sinne des § 611 BGB. Der Beklagte schuldete keinen Erfolg etwaiger Rettungsmaßnahmen. Er war allerdings verpflichtet, unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung zu vermitteln.

Im konkreten Fall drängte sich das Vorliegen eines akuten medizinischen Notfalls auf. Aufgrund der Betätigung der Notruftaste und des Verhaltens des Klägers nach Annahme des Rufs in der Zentrale des Beklagten war deutlich, dass medizinische Hilfe benötigt wurde. Der Kläger war zu einer verständlichen Artikulation offensichtlich nicht mehr in der Lage, so dass der Mitarbeiter des Beklagten minutenlang nur noch ein Stöhnen wahrnahm. Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, scheiterten mehrfach. Aus dem Erhebungsbogen zu dem Notrufvertrag war den Bediensteten des Beklagten bekannt war, dass der 78-jährige Kläger an schwerwiegenden, mit Folgerisiken verbundenen Vorerkrankungen litt. In einer dermaßen dramatischen Situation stellte die Entsendung eines medizinisch nicht geschulten, lediglich in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiters eines Sicherheitsdienstes zur Abklärung der Situation keine „angemessene Hilfeleistung“ im Sinne des Hausnotrufvertrags dar.

Grundsätzlich trägt der Geschädigte die Beweislast für die Pflichtverletzung, die Schadensentstehung und den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden. Im Arzthaftungsrecht führt allerdings ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage gilt dies entsprechend bei grober Verletzung sonstiger Berufs- oder Organisationspflichten, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf, dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Der Senat hat keine Bedenken, diese Beweisgrundsätze auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Der von dem Beklagten angebotene Hausnotrufvertrag bezweckte in erster Linie den Schutz von Leben und Gesundheit der zumeist älteren und pflegebedürftigen Teilnehmer. Der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter des Beklagten hat die diesem obliegenden vertraglichen Schutz- und Organisationspflichten grob verletzt. Durch diese Nachlässigkeit wurden erhebliche Aufklärungserschwernisse in das Geschehen hineingetragen. Die Beweissituation ist für den Kläger beziehungsweise seine Rechtsnachfolgerinnen gerade dadurch erheblich verschlechtert worden, dass der Beklagte gegen die ihm nach dem Hausnotrufvertrag obliegenden Kardinalpflichten gravierend verstoßen hat und der Kläger infolgedessen bis zur Einlieferung in die Klinik am 11. April 2012 gänzlich unversorgt allein in seiner Wohnung lag.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. Mai 2017 – III ZR 92/16

Spektakulär an dem Urteil ist, dass der BGH in seiner Entscheidung die Grundsätze der Beweislastumkehr damit vom Arzthaftungsrecht auf weitere Berufsfelder im Gesundheitswesen ausdehnt. Das Urteil im Einzelnen finden Sie unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=78244&linked=pm

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in Gießen Björn Weil

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